geschrieben von Carl Steuernagel:
Der Gewerbeverein Mühltal e.V., der im Jahre 1985 auf ein 100-jähriges Bestehen zurückschauen kann, zählt zu den ältesten Ortsvereinen. Die Geburtsstunde des Gewerbevereins Nieder-Ramstadt war im Jahre 1885, einem Zeitpunkt, an dem sich die einheimischen Handwerker und Gewerbetreibenden zu einem Verein zusammenschlossen. Die damals überall einsetzende Industrialisierung verwickelte das Handwerk in einen harten Existenzkampf, denn das mittelalterliche Zunftwesen, das größte Organisations- und Erziehungswerk des Handwerks der Vergangenheit, war zerschlagen. Von der Erkenntnis ausgehend, dass nur durch sorgfältige Fachausbildung Höchstleistungen erzielt werden können, gründeten die Nieder-Ramstädter Handwerker den Gewerbeverein, um gemeinsam die Interessen der Kleinhandwerker wahrnehmen zu können. Auch in Nieder-Ramstadt entgingen einige Handwerkerbetriebe dem Verfall dadurch, dass sie sich zu Fabriken entwickelten, wieder andere gingen unter, trotz aller Anstrengungen ihrer Besitzer.
Dazu gehörten in Nieder-Ramstadt auch die ansässigen Handelsmühlen, die mit den großen Dampfmühlen in Süddeutschland den Wettbewerb nicht mehr aufnehmen konnten. Erster Vorsitzender des neugegründeten Gewerbevereins war Sattlermeister Ludwig Fischer. Nach dessen Tod übernahm der Mühlenbauer Wilhelm Pfaff die Leitung des Vereins. Mit Unterstützung des damalig in Nieder-Ramstadt tätigen Lehrers Kaiser wurde eine Sonntagszeichenstunde eingerichtet, die ausschließlich von ortsansässigen Handwerkern finanziert wurde. Hier machte der neugegründete Verein erstmals seinen Einfluß auf die Ausbildung der jungen Handwerker geltend. Der erste Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen zerbrach alle Hoffnungen des Handwerks auf eine Höherentwicklung. Erst im Jahre 1926 sammelte sich das Handwerk erneut unter dem Vorsitz von Schreinermeister Georg Keil in eine Selbsthilfeorganisation. Der Verein erhielt den Namen „Ortsgewerbeverein Nieder-Ramstadt”. Zimmermeister Georg Ludwig Bernhardt übernahm dann die Geschicke des Vereins, der mit großer Hingabe sich den Interessen der Mitglieder widmete und den Verein zu einem wichtigen Faktor der Gemeinde machte. Das dritte Reich erschwerte auch die Arbeit des Ortsgewerbevereins, sodass es im Jahre 1934 sogar zur Auflösung kam. Bevor dies jedoch geschah, zeigte man noch einmal die Leistungsfähigkeit des ortsansässigen Gewerbes in einer großangelegten Ausstellung im Jahre 1933.
Durch die Innungen, denen damals jeder Handwerker und Gewerbetreibende zwangsweise angehören mußte, glaubte man, alle Aufgaben der Gewerbetreibenden ordnen und lösen zu können. Der Weg zum totalen Zusammenbruch hatte damit seinen Anfang genommen. Seine Wiedergeburt erlebte der Verein nach schweren Kriegsjahren am 12.03.1949, nachdem die Besatzungsmacht die Neugründung von Vereinen wieder zuließ. Die Handwerker und Gewerbetreibenden beschlossen, die alte Tradition wieder aufleben zu lassen. Aus den vorliegenden Memoiren des neugewählten Bäckermeisters Wilhelm Steinmann zum neuen Vorsitzenden ist zu entnehmen, dass man in Nieder-Ramstadt eine große Werbe- und Leistungsschau als erste in Hessen durchführte, die von aberhunderten Bürgern aus nah und fern besucht wurde. Auch im Jahr 1950 veranstaltete der Gewerbeverein eine Leistungsschau anläßlich der Feier zum 750-jährigen Bestehen von Nieder-Ramstadt. Bei der Organisation dieser Feier hatte der Gewerbeverein einen wesentlichen Anteil. Auf den verschiedensten Gebieten konnte der Verein nun seinen Einfluß zum Wohle der Mitglieder und Bürger geltend machen. Vor allem galt es wieder, das Handwerk in Gang zu bringen, was nach den Kriegswirren nicht leicht gewesen war. Mit vereinter Kraft stemmte man sich gegen das Aufkreuzen von „Scheinblüten” im Handwerk. Man war sich in der Zielsetzung einig, dass nur gute handwerkliche Arbeit zum Erfolg führt, ein Leitwort, das auch heute noch im Vordergrund des Wirkens des Vereins steht. Nach Wilhelm Steinmann war im Amt des 1. Vorsitzenden ein öfterer Wechsel zu verzeichnen. Es folgten Wilhelm Schuchmann (von 1953 bis 1956), Franz Bender (von 1956 bis 1959), Karl Höfle (von 1959 bis 1963), Hans Möller (von 1963 bis 1965), Georg Plösser (von 1965 bis 1970). Im Februar 1970 wurde Gärtnermeister Georg Pfaff zum neuen Vorsitzenden des Vereins gewählt..
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Mit ihm zog auch ein neues Gedankengut in die Arbeit des Vereins ein, nämlich den Verein stärker in den Mittelpunkt des Gemeindegeschehens zu stellen. Ersetzte neue Impulse und ein rühriger Vorstand trug diese mit. Man verfolgte mit Interesse die Beschlüsse der Gemeindegremien und brachte ebenfalls entsprechende Vorschläge dort ein. Vor allem wehrte man sich gegen Entscheidungen, die nicht zum Wohle der Orts-gewerbetreibenden und Handwerker anzusehen waren. Immer stärker und größer wurde der Konkurrenzkampf der Kleinbetriebe und Geschäfte durch die Ansiedlung und Zulassung von Supermärkten. Viele Schriftstücke bekunden den Einsatz des Vorstandes und manch anstehende Entscheidung konnte verhindert werden. Auch das Verhältnis des Vereins zu den anderen Ortsvereinen wurde auf eine andere Basis gestellt. Man wurde Mitglied bei der Interessengemeinschaft der Ortsvereine, die im Jahre 1967 durch Carl Steuernagel und Ludwig Krautwurst gegründet wurde. Georg Pfaff gehörte als Vertreter des Gewerbevereins von der ersten Stunde an dem Arbeitsausschuss dieser Interessengemeinschaft an. Auch heute hat er noch dieses Amt inne. Bereits aus der Zeit des Vorsitzes von Wilhelm Steinmann wurde der Gewerbeverein zahlendes Mitglied des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Nieder-Ramstadt. Auch hier vertritt Georg Pfaff heute noch den Gewerbeverein im Vorstand. Man nahm wesentlichen Anteil an der Ortsverschönerung, man wirkte bei Gartenprämierungen mit, man gestaltete Anlagen und anderes mehr. Hauptaufgabe des Vereins ist es, die ortseingesessenen Familien- und Kleinbetriebe so zu sichern, dass sie dem heutigen harten Existenzkampf gewachsen sind. Nieder-Ramstadts Geschäfte tragen heute ausnahmslos das Prädikat: „Konkurrenzfähig – zeitgerechte moderne Einrichtung – große Auswahl im Angebot und reelles Geschäftsgebaren.” .
Im Jahre 1975 beging der Verein im Rahmen einer Feierstunde in der Kulturhalle sein 90-jähriges Jubiläum. Im Zeichen des damaligen Wirtschaftsaufschwungs und der Vollbeschäftigung hatte auch das Handwerk festen Boden unter den Füßen und der Verein konnte bei steigender Mitgliederzahl sich nun auch innerörtlichen Problemen, wie beispielsweise dem Verkehrsproblem (Umgehung B 426) widmen. Auch die Geselligkeit wurde gepflegt. Es wurden Ausflüge mit den Familienangehörigen unternommen, es wurde ein Stammtisch gebildet. Um den Bürgern deutlich zu machen, welche Gewerbetreibende und Handwerksbetriebe Mitglied des Gewerbevereins sind, wurde eine Plakette geschaffen, die an den Ladentüren oder Geschäftseingängen angebracht wurde. Im Jahre 1977 wurde durch die angeordnete Gebietsreform des Landes Hessen die Großgemeinde Mühltal gebildet, der nun die ehemaligen Gemeinden Nieder-Ramstadt, Traisa, Trautheim, Nieder-Beerbach, Frankenhausen und Waschenbach angehören. Dies war auch Grund genug, darüber nachzudenken, die Gewerbetreibenden aus den anderen Ortsteilen in den Gewerbeverein Nieder-Ramstadt zu integrieren. In der Jahreshauptversammlung vom 18. März 1978 wurde beschlossen, den Namen des Gewerbevereins Nieder-Ramstadt in „Gewerbeverein Mühltal” umzubenennen. Gewerbetreibende aus Traisa und Waschenbach schlossen sich an, doch eine Werbeaktion in Nieder-Beerbach führte zu keinem Erfolg. Der Verein beschritt nun auch neue Wege der Werbung, insbesondere zur Weihnachtszeit.
Den Protokollbüchern des Vereins ist zu entnehmen, dass eine stattliche Zahl Gewerbetreibende auf eine alte Familientradition zurückschauen können. Mehrere 100-jährige Jubiläen dieser Art konnten in den letzten Jahren feierlich begangen werden. Viele Geschäfte wurden modernisiert, große Verkaufsläden geschaffen, um die Kunden der immer größer werdenden Gemeinde zufriedenzustellen. In der Jahreshauptversammlung im Mai 1984 stellte Georg Pfaff aus familiären Gründen sein Amt als 1. Vorsitzender zur Verfügung. Aufgrund seiner großen Verdienste um den Verein wurde er einstimmig zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Sein Nachfolger wurde Willy Tandler aus Traisa, ein Vorstandsmitglied, der auch die Kraft zur Führung eines Vereins besitzt.
In der gleichen Versammlung wurde auch entschieden, daß der Verein sich in das Vereinsregister beim Amtsgericht Darmstadt eintragen lassen will. Der Verein trägt deshalb den Namen: „Gewerbeverein Mühltal e.V.”. Dieser Entschluß machte auch die Korrektur der Satzung erforderlich, die inhaltlich in mehreren Sitzungen überarbeitet wurden. In dieser Satzung ist verankert, dass man sich zur Aufgabe gestellt hat, die Mitglieder in jeder Weise in den gewerblichen beziehungsweise geschäftlichen Interessen zu unterstützen. Diese Satzung trat am 19. September 1984 in Kraft. Die Vorbereitungen zur 100-Jahr-Feier waren die wichtigsten Themen mehrerer Vorstandssitzungen. Man legte fest, dass eine Feierstunde den festlichen Rahmen bilden und eine Gewerbeschau vom 27. bis 29. September 1985 eine Darstellung der Betriebe in der Öffentlichkeit sein sollte.
Nicht frei von Sorgen begeht der Verein seinen 100. Geburtstag. Mehr denn je stehen seine Mitglieder im Zeichen eines harten Wirtschaftskampfes, der das Überleben der Kleinbetriebe und Gewerbetreibenden gefährdet. Hinzu kommt eine steigende Arbeitslosigkeit von über zwei Millionen in der Bundesrepublik, die ebenfalls ihre Schatten hinterläßt. Wenn auch der Tante-Emma-Laden in Mühltal so gut wie ausgestorben ist, will man diese schöne Vergangenheit in guter Erinnerung behalten. Im gemeinsamen Beistand will man das traditionsreiche Kleingewerbe und die Familienunternehmen erhalten und fortführen. In all die Freude zum 100. Geburtstag mischt sich aber auch ein stilles Gedenken an all die Mitglieder, die der grüne Rasen deckt. Sie waren die Vorkämpfer gewesen und man will sie in Ehren halten..
Mit Zuversicht, und Vertrauen in die Kraft seiner Mitglieder geht der Verein in das zweite Jahrhundert seines Bestehens. Sein Dank gilt all den vielen Bürgern, die das örtliche Gewerbe unterstützen und zukünftig auch diese Treue halten.
Carl Steuernagel †